- Medizinnobelpreis 1912: Alexis Carrel
- Medizinnobelpreis 1912: Alexis CarrelDer französische Chirurg erhielt den Nobelpreis als Anerkennung für seine Arbeiten über die Gefäßnaht sowie über Gefäß- und Organtransplantationen.Alexis Carrel, * Sainte-Foy-lès-Lyon (Frankreich) 28. 6. 1873, ✝ Paris 5. 11. 1944; Medizinstudium in Lyon, ging 1904 nach Chicago und 1906 nach New York, 1914-19 Dienst im medizinischen Korps der französischen Armee, anschließend bis 1939 wieder am Rockefeller-Institute in New York, Rückkehr nach Frankreich und Mitarbeit im Gesundheitsministerium der Vichy-Regierung.Würdigung der preisgekrönten LeistungAlexis Carrel ist der entscheidende Wegbereiter der experimentellen Chirurgie, insbesondere der Herz- und Gefäßchirurgie und der Organtransplantation. Der Stellenwert seiner Arbeiten ist epochal, trotzdem ist der Arzt und Wissenschaftler heute nahezu vergessen.Der ehrgeizige Jesuitenschüler Alexis studierte ab 1890 im nahen Lyon Medizin. Das Attentat eines Anarchisten auf den Präsidenten der dritten französischen Republik, Marie François Sadi Carnot, 1894 machte auf den jungen Studenten einen tiefen Eindruck. Der Präsident war mit einem Messer niedergestochen worden. Er musste sterben, weil die zuständigen Chirurgen nicht in der Lage waren, die verletzte Pfortader zu nähen. Carrel war von diesem Ausgang außerordentlich enttäuscht und kritisierte seine medizinischen Lehrer, da sie zwar Muskeln und andere Gewebe nähen konnten, Blutgefäße aber nicht.Rastlos und systematisch für die MedizinVon da an widmete er sich der Nähtechnik von Blutgefäßen. Systematisch ließ er sich in diesem schwierigen Handwerk ausbilden. Zunächst suchte er ein Fräulein Leroudier auf, das ihn die Kunst des Stickens lehrte. Dann besorgte er sich in Kurzwarenläden die feinsten Nadeln und geeignetes Nahtmaterial, Dinge die damals in der Medizin nicht zur Verfügung standen, und begann 1900 am Hospital der Universität Lyon mit seinen gefäßchirurgischen Experimenten. Zwei Jahre später veröffentlichte er einen Epoche machenden Beitrag über seine mehrfache Nahttechnik zur Verbindung durchtrennter Blutgefäße. Die Carrel'sche Naht oder Anastomosennaht wird in Form der End-zu-End- oder End-zu-Seit-Naht ausgeführt.Er schrieb darüber: »Während der letzten Monate im Jahr 1901 begann ich mit den Experimenten zur operativen Verbindung von Gefäßen mit dem Ziel, bestimmte Organe zu transplantieren. Die Transplantation besteht aus dem Herausnehmen beispielsweise einer Drüse, der Schilddrüse oder der Nieren, ihrer Entfernung mitsamt der Arterie und Vene, um sodann diese Gefäße an einem anderen Ort ans Kreislaufsystem anzuschließen.« Carrel gelang es zum ersten Mal in der Chirurgie, unter aseptischen Bedingungen an vorsichtig gedehnten Gefäßen End-zu-End- und End-zu-Seit-Anastomosen herzustellen, ohne dass es zu Thrombosen, Blutungen, Infektionen oder Verengungen gekommen war.Ein zweites einschneidendes Erlebnis noch im selben Jahr veränderte Carrels Leben grundlegend. Er war von einem Freund auf eine Reise in den Pilgerort Lourdes eingeladen worden. Im Zug befand sich eine junge Frau, die an tuberkulöser Bauchfellentzündung im Endstadium litt. Sie war dem Tod nahe. In Lourdes angekommen, war sie bewusstlos und konnte nicht am Bad teilnehmen. Ihr Bauch wurde deshalb mit dem heiligen Wasser besprenkelt. Nach einer Stunde begannen die Schwellung und die offene Tuberkulose zurückzugehen; die Frau mit Namen Marie Bailly gesundete vollkommen. Als Carrel dieses Wunder zu Hause der medizinischen Gesellschaft vortrug, lachte man ihn aus und stellte ihn als einfältig, dumm und ignorant hin. Denunziationen beendeten seine Universitätskarriere in Lyon.Glaube an das christliche Wunder1904 ging Carrel deshalb an die physiologische Abteilung der Universität Chicago. Dort gelang es ihm im Tierversuch, Teile von Venen und Arterien zu verpflanzen. Die Tiere lebten danach unbeschadet noch mehrere Jahre. Er begann auch mit der Lagerung von lebendem Gewebe zu experimentieren. Schon 1905 baute er ein Sterillabor auf. Ein Jahr später transplantierte er einem Hund ein Bein. Erst 1962 konnte diese chirurgische Meisterleistung beim Menschen erfolgreich wiederholt werden. Seine Arbeitsgruppe experimentierte auch mit der Transplantation von Nieren und sogar von Herzen. Carrel entwickelte in diesem Zusammenhang eine Technik, die Thrombosegefahr in engen Blutgefäßen zu verringern, indem er mögliche Thromben in weitere Gefäße umleitete.Als ihm das Rockefeller-Institut eine Stelle anbot, ging er 1906 nach New York. Durch die besseren finanziellen Bedingungen konnte er dort seine Arbeitsgebiete weiter ausweiten. Schon 1910 machte Carrel aortakoronare Bypass0perationen. Das war zwei Jahr bevor die ersten Koagulationshemmer entwickelt worden waren. Er war auch der Erste, der eine direkte Bluttransfusion zwischen einem Vater und seinem neugeborenen Kind wagte. Dieser Erfolg machte ihn in den ganzen USA schlagartig bekannt.Auf dem Gebiet der Gewebekultur leistete seine Arbeitsgruppe ebenfalls Bahnbrechendes. Embryonale Herzmuskelzellen konnten in Kultur genommen werden, ebenso Tumorzellen und sogar ausdifferenzierte Zellen. Carrel wies nach, dass Krebszellen unsterblich sind und ihr Nährstoffbedarf nicht größer ist als der normaler Zellen, wie bis dahin allgemein angenommen worden war. 1910 legte er seine berühmten Hühnerherzkulturen an, die erst zwei Jahre nach seinem Tod aufgelöst worden sind. Während des Ersten Weltkriegs gab er, zurück in seiner Heimat, die Entwicklung einer für das Feld tauglichen Wunddesinfektionslösung in Auftrag. In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Chemiker Henry Dakin fand er das Natriumhypochlorid als am besten geeignet. Es wird noch heute als Grobdesinfektionsmittel verwendet.1919 ging er mit seiner Frau, die er bei Besuchen in Lourdes kennen gelernt hatte, in die USA zurück. Neben vielen anderen Forschungen begann er zehn Jahre später an der Lagerung von lebenden Organen zu arbeiten. Gemeinsam mit dem jungen Laborassistenten und späteren Transatlantikflieger Charles Lindbergh (1902-74) entwickelte er eine Sauerstoffpumpe, die Organe rhythmisch mit sterilem Sauerstoff versorgte. Mit dem Lindbergh-Apparat gelang es, die Blutzirkulation aufrecht zu erhalten.Carrel, der Mystiker und Philosoph1935 legte Carrel seine Gedanken in dem Buch »Der Mensch, das unbekannte Wesen« nieder. Es wurde in 19 Sprachen übersetzt und erfuhr eine Auflage von über 900 000 Stück. Darin forderte er, nicht nur den Körper, sondern auch den Geist des Menschen stärker zu erforschen. Bevor der Mensch als Ganzes verstehbar wäre, müssten Verfahren entwickelt werden, die die Seele experimentell zugänglich machen. Er glaubte an die Macht des Willens, die charakterliche Defekte beheben könne. »Diese Leidenschaft ließ Pasteur die Medizin erneuern, Mussolini eine große Nation aufbauen, Einstein ein Universum kreieren. Derselbe Geist treibt den modernen Menschen zu Raub und Mord und zu großen finanziellen und ökonomischen Unternehmungen, die unsere Zivilisation prägen. Aber seine Kraft baut auch Krankenhäuser, Laboratorien, Universitäten und Kirchen. Sie treibt den Menschen ins Glück und in den Tod, zu Heldentum und Verbrechen, aber niemals zum Glück.«Solche Sätze haben dem Menschen Carrel im Nachhinein sehr geschadet. Er hatte bis zu seinem Tod im Gesundheitsministerium der Vichy-Regierung gearbeit und eine Gesellschaft gegründet, um Hunger und Mangelernährung der Kinder zu untersuchen. Dennoch gilt er heute als Kollaborateur und Anhänger des Nationalsozialismus. Er starb von Depressionen gepeinigt.U. Schulte
Universal-Lexikon. 2012.